Stuttgart (1959-1965)

Der im Text erwähnte „alte Dohl“ war Friedrich Dohl (1852-1941), der Vater von Evas Mutter Emilie Zippel].

 



Ein Flugbauingenieur interessierte sich für seine selbstgebauten Apparate und kaufte ihn einschließlich seines Maschinenparks für das Raketenforschungsinstitut der Firma Bölkow ein. Der 68jährige verließ täglich noch vor Morgengrauen die einsame Wohnung, nahm den Zug nach Kirchheim unter Teck und nannte sich Raketenforscher.

 

Die Selbständigkeit aufgegeben zu haben, war seine größte Niederlage. Sie war bitterer als die Kälte des langen Winters, und die Anerkennung seiner Arbeit wog das Alleinsein nicht auf. Zeitlebens hatte er sich zur Wehr gesetzt, jetzt fand er keine Waffe gegen die Müdigkeit, die Arbeitstage in die Länge zieht und Treppen steiler werden läßt.

 

Der Lauf der Dinge hatte ein Einsehen mit ihm, der Käfig öffnete sich. Das Unternehmen wurde an den Bodensee verlegt, mein Vater ging nicht mit. Er ließ sich ohne Abfindung entlassen. Daß der Mittelsmann, der ihn angeheuert hatte, dabei einen guten Schnitt machte, erfuhr er erst später. Indes war ihm die wiedergewonnene Freiheit mehr wert als eine Altersversorgung. Er holte meine Mutter. Sie zog mit der Katze auf dem Arm in der Bebelstraße ein. Wir gaben ihr die Möbel des Wohnzimmers mit, in denen sie über zwei Jahrzehnte gelebt hatte. Sie brachte mit ihrer Anwesenheit die altvertraute Atmosphäre ein. Da war kein Wort des Vorwurfs, keine peinliche Frage. Es war Friede, und sie war da.

 

845
Waldemar Zippel in seiner Werkstatt, 1962

In meinem Tagebuch aus dem Jahr 1959 steht der Satz: „Ich glaube, die Eltern sind glücklich.“ Hier enden die Märchen. Hier zeigen sie ein letztes Bild, auf dem zwei Menschen nach langem Irrweg sich wiedergefunden haben, und der Abend kann eingeläutet werden. Wie gerne würde ich mit einem solchen Bild mein Portrait abschließen und es so in der Erinnerung bewahren. Aber auf jeden Abend folgt die Nacht. Sie kam.

 

Die Katze sprang aus dem zweiten Stock und war verschwunden. Wir suchten sie alle vergeblich. Meine Mutter konnte es nicht fassen, sie konnte nicht weinen, sie bekam Gelbsucht. Das Fieber verwirrte ihren Geist, sie wußte nicht mehr, wo sie war.

 

Mein Vater pflegte sie, er besorgte den Haushalt, die Einkäufe, das Kochen, und er beugte sich wieder über seine Uhren. Um ihr eine Freude zu machen, brachte er ihr einen mehlweißen Kater, und, um uns alle ein bißchen zu provozieren, nannte er ihn Adolf.

 

Das Altern war für meinen Vater eine Demütigung. Nie zuvor war ihm sein Körper eine Last gewesen. Krankheiten kannte er nicht, er verachtete sie, wie man ein unbekanntes Übel verachtet. Er hatte sich jederzeit auf seine Kraft verlassen können, jetzt begegnete er diesem Körper, der sein eigener war, wie einem Fremden. Manchmal saß er schweigend am Tisch und betrachtete seine Hände. Er drehte sie um und wieder um. Beim Aufstehen nahm er die Tischkante in den Griff. Ihm wurde bewußt, daß seine Beine in der Mitte durch Kniegelenke unterbrochen werden und daß sein Rückrat aus einzelnen Wirbeln besteht. Er legte die kalten Hände an die Kacheln des Ofens. Die Haut war gefühllos, aber das Knochengerüst gab sich zu erkennen. Auch die Augen spürte er von innen. Vergeblich betätigte er die Höhenverstellung des Mikroskopes über dem Werktisch, die Räder, die Anker, die Unruhe, bekamen keine Konturen. Er gab dem Tischbein einen Tritt, schleuderte den Drehstuhl um die Spindel, stand auf, drückte die Fingerspitzen in die Augenhöhlen, ging schimpfend durch das Zimmer und versuchte es von neuem.

 

Ein Kunde riet ihm, einen Arzt aufzusuchen. Das Urteil war: Diabetes. Süßigkeiten hatte er immer verschmäht. Jetzt dachte er an Schokolade und an dieses ganze Schleckwerk, das er als unmännlich verachtet hatte. Im Herbst wollte er noch einmal in die Pilze gehen. Im Treppenhaus hielt er sich am Geländer fest. Er wollte in die Straßenbahn steigen, aber die Knie blieben steif. Er ließ den Handgriff wieder los und trat einen Schritt zurück. Die Bahn zum Westbahnhof fuhr ohne ihn ab. Vielleicht sah er noch durch die Scheiben ein paar gleichgültige Blicke auf ihm ruhen: der weiß auch nicht, was er will. Er stand auf dem Bordstein und blickte eine Weile dem gelben Gefährt nach.

 

Wohin wollte er, was wollte er? Ihn fror. Er ging langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, bis zur nächsten Ecke in den Metzgerladen und kaufte Lunge für seinen Kater. Er schob das Eingewickelte in die Rocktasche und machte sich auf den Heimweg. Auf der Treppe verzerrte er das Gesicht zu einer Grimasse, die ihm ein paar Tränen aus den Augenschlitzen preßte, suchte den Schlüsselbund in der Hosentasche, schloß auf, trat in die Küche und holte die Schere, die er auf und zu klappte. Durch das Geräusch angelockt, kam Adolf aus dem Wohnzimmer gerannt und folgte ihm in die Werkstatt. Der alte Mann setzte sich auf seinen Drehstuhl, schnitt kleine Stücke von dem Lungenlappen ab, die er einzeln auf den Kleiderschrank warf. Der Kater, der das Spiel kannte, sprang hinauf und verzehrte dort oben seine Beute seitlich kauend, mit schrägem Kopf und zugedrückten Augen.

 

Die Gegenstände hatten sich gegen ihn verschworen. Das Werkzeug fiel zu Boden, die Unruhe, die er einsetzen wollte, war nicht mehr zu finden, der Anker versteckte sich im Hosenaufschlag, ein Glas zerbrach. In der Küche verdarben Speisen. Ein grauer Belag überzog Tisch, Schrank und Geschirr. Aus der Mehldose flogen Motten. Die Zimmerdecke war vom Ofenrauch bleigrau geworden.

 

Meine Schwester kam jede Woche einen Tag, um die Wohnung zu putzen und nach der Wäsche zu sehen. Aber mein Vater wehrte sich gegen jeden Handgriff. Das sei doch nicht nötig, dies und jenes sollte sie nicht anfassen; sie sollte sich lieber hinsetzen und etwas erzählen und nicht so viel Unruhe schaffen. Manchmal wurde er zornig. Er fühlte sich bevormundet. Genau diese Tücher hätte sie nicht waschen sollen, die waren zum Polieren ausrangiert. In die frischgereinigte Badewanne goß er mit Schwung einen Topf voll verdorbener Fleischbrühe. Auf das weiße Tischtuch stelle er ohne Untersatz die spritzende Bratpfanne. Er mußte alles wieder wegfegen, was ihm an bürgerlicher Ordnung aufgezwungen wurde. Als Herta Farbeimer und Malerutensilien brachte, um die Wohnung zu weißeln, bekam er einen roten Zorn. Sie konnte gegen seinen geballten Widerstand nichts ausrichten.

 

Unsere Hilfe brachte nur Unruhe ins Haus und vor allem demonstrierte sie ihm, daß er Hilfe benötigte. Wir hatten uns mit den Dingen verbündet, anstatt uns in Frieden zu ihm zu setzen. Es gab doch noch viel Wichtigeres als den Staub auf dem Schrank. Da war doch die Geschichte mit der Fabrik auf der Loire-Insel bei Orléans. Euere Mutter hatte schon die Vorhänge genäht. Damals hätte ich den Betrieb für einen Spottpreis kaufen können, alles war perfekt, wenn dieser Kerl in Deutschland nicht dazwischen gekommen wäre, na. wie hieß er doch?

 

Aber sie hören ihm ja nicht zu. Wenn er sich über einen Vertreter beklagte, der ihm ein Zeitschriftenabonnement aufgeschwatzt hatte, sagte ihm die Jüngere, daß er nicht verpflichtet sei, an der Tür zu kaufen. Als ob er das nicht selber wüßte. Kann man sich denn über gar nichts beklagen, ohne Ratschläge zu bekommen! Natürlich war es falsch, aus der Techniker-Krankenkasse auszutreten, aber wer konnte ahnen, daß dieser blöde Zucker eintreten würde? Er war doch immer gesund. Habt ihr mich schon einmal tagsüber im Bett liegen sehen? Könnt ihr euch erinnern, daß jemals ein Arzt bei uns im Hause war? Nein, sie können nicht zuhören. Sie haben es immer eilig, kommen wie die Bienen durch die Tür eingeflogen, fassen alles an und sind wieder verschwunden.

 

Vielleicht freute er sich auf den Donnerstag. Das war der Tag der Eltern, das heißt, sein Tag. Vater kochte, und wir verbrachten den Abend alle an einem Tisch. Er machte sich schon früh in der Küche zu schaffen: Wasser und Mehl gehören nicht in die Küche, war sein Lehrsatz. Es wurde alles in Butter und Öl gebraten und gedünstet. Sein neuestes Rezept war die „doppelte Fleischbrühe“, Fleisch in Fleischsud gekocht. Dieses ergab wiederum eine kräftige Sauce, die bei den Mahlzeiten mit überschwappender Schöpfkelle quer über das Tischtuch auf die vollen Teller geschüttet wurde.

 

Zu seinem zweiundsiebzigsten Geburtstag schenkte ich ihm einen Stock. Er machte damit ein paar clownhafte Bewegungen, aber von meiner Schwester erfuhr ich später, wie schwer ich ihn mit diesem Geschenk getroffen hatte. Wieder einmal hatte ich seine Klagen wörtlich genommen und Abhilfe schaffen wollen. Daß ihm diese Stütze unentbehrlich war, merkte er, als er sie vermißte. Herta sollte ihm wieder einen neuen Stock kaufen, aber bitte genau der gleiche mußte es sein, damit ich nicht merke, daß er ihn verloren hatte. Und bei dieser Gelegenheit brachte sie mir bei, ich solle die Miete und das Monatsgeld per Dauerauftrag auf seine Bank überweisen. Es sei ihm unangenehm, von mir Scheine anzunehmen.

 

841
Grabrelief der Eltern, auf einer Bank sitzend, von Eva Zippel

Die Mutter wollte heim. Sie suchte ihre Eltern. Mein Vater hielt sie mit seiner ganzen Kraft fest, aber es gelang ihr immer wieder, aus der Wohnung zu entkommen. Er suchte sie in der Stadt. Er rief mich an, wir suchten sie gemeinsam. Wir fanden sie durchfroren mit wunden Füßen, weil sie die Schuhe verwechselt hatte. Wenn sie kurz darauf wieder verschwunden war, getraute er sich nicht mehr, mich zu benachrichtigen. In der Nacht holte ich sie bei der Polizei ab, die sie irgendwo, weitab, umherirrend, aufgegriffen hatte. Er sperrte sie ein. Warum geht sie? Ich tue doch alles für sie! Aber sie wollte fort, heim, da, durch diese Tür, zu ihrer Mutter. Sie krallte sich mit aller Kraft an die Klinge. Er schlug ihr mit der Kleiderbürste auf die Finger, sie ließ nicht los. Ich brachte sie in ein Heim. Als wir mit dem Köfferchen die Treppe hinuntergingen, stand er unter der Tür und sah uns nach. Jetzt war sie fort. Auch wenn die Frau nichts mehr verstand, sie war doch dagewesen. Vor ihr brauchte er sich nicht zu schämen. Man kann doch nichts für sich alleine tun, für sich kochen, für sich überlegen, für sich arbeiten. Den Handlungen fehlt die Richtung. Auch die Sprache braucht ein Ziel. Wenn er jetzt laut mit sich selbst reden würde, das wäre der Irrsinn. Nicht einmal fluchen kann man alleine. Ohne Zuhörer schafft es keine Erleichterung.

 

Aber es war gut, daß ich sie weggebracht hatte. Er konnte doch nicht mehr auf sie aufpassen, sie fand nicht einmal mehr den Weg zur Toilette. Vielleicht erinnerte er sich an seine Schwiegereltern, die nach ihrer eisernen Hochzeit ins Bürgerhospital kamen, ins „Gobberhaus“, wie es der alte Dohl nannte, wo sie getrennt wurden, er in die Männer-, sie in die Frauenabteilung, und das nach fünfundsechzigjähriger Ehe! Einmal am Tag durfte er sie besuchen. Ob sie ihn wohl erkannte? Bei den anderen Besuchern wußte sie nicht mehr, wer sie waren. Der 89jährige hat sein Leben so lange festgehalten, bis sie gestorben ist. Dreizehn Kinder hat er gezeugt, und keines hat ihn zu sich genommen, welch ein Leben!

 

Vielleicht dachte mein Vater auch an seine Mutter, die in Winnenden alleine gestorben war. Er hatte sie in seine Wohnung aufgenommen, bevor er im zweiten Kriegsjahr nach Frankreich gegangen war. Dort wurde sie gut versorgt, aber sie mußte bei jedem Fliegeralarm in den Keller getragen werden, und es war gut für sie, daß sie den letzten Bombenhagel nicht miterlebt hat. Hat er sie im Heim besucht? Frauen können viel besser alleine auskommen. Seine Töchter haben immer zur Mutter gehalten. Jetzt fahren sie nach Teinach und ihre Besuche bei ihm werden immer kürzer. Sie sehen nach dem Rechten, ja, nach dem Rechten, und wer sieht nach ihm?

 

An einem warmen Frühlingstag fuhr ich mit ihm in den Wald an die Bärenseen, in seinen Pilzwald. Nach wenigen Schritten setzte er sich auf den Stamm einer gefällten Buche und ließ die Sonne auf seine steifen Glieder scheinen. „Das tut mir gut, hierher möchte ich oft wiederkommen.“ Ich versprach es ihm. Anderen Tags bat er mich, ihn zu einem Chemikaliengeschäft zu fahren, da er dringend Waschbenzin benötige. Ich konnte für eine halbe Stunde die Arbeit unterbrechen und holte ihn ab. Auf der Straße blieb er stehen: „Ach komm, gehen wir vorher noch einen heben. Tu doch nicht immer so geschäftig!“ Er wollte in die Wirtschaft. Ich ließ ihn stehen und fuhr ab. Es war das letzte Mal, daß ich ihm hätte eine Stunde zuhören können.

 

Er mußte ins Krankenhaus, um seinen Zucker einstellen zu lassen. Im Teinacher Heim lag die Mutter im Sterben. Als ich zwischendurch in die leere Wohnung kam, sprang mich der halbverhungerte Kater an. Ich konnte das Tier nicht täglich versorgen. Ich ließ es einschläfern. Dem Vater sagte ich, der Kater sei im Tierasyl. Ich hatte nicht den Mut, ihm die Wahrheit zu gestehen. Als ich ihn wieder besuchte, ging es ihm besser. Er sollte am übernächsten Tag entlassen werden. „Nicht wahr, Eva, das erste, das wir tun, wenn ich hier heraus komme, wir fahren ins Tierheim und holen den Adolf.“ „Ja!“ sagte ich.

 

Auf einer Baustelle in Balingen erreichte mich der Anruf, mein Vater sei gestorben. Ich fuhr sofort nach Stuttgart. Ich habe ihn nicht mehr gesehen. Als ich im Katharinenhospital sein Zimmer betrat, war das Bett schon frisch überzogen. Ihn hatten sie in die Pathologie geschafft. Ein junger Arzt erklärte mir, es sei ein Schlaganfall gewesen, er habe ihn seziert, sein Gehirn sei völlig verkalkt. Die Schwestern hätten ihre Not mit ihm gehabt. Das war alles. Er eilte davon, und die Stationsschwester übergab mir, d. h. sie deutete auf ein Bündel Kleider, das am Boden lag. Es war ein Hemd, dessen Manschetten er mit dem Rasiermesser abgeschnitten hatte, es war ein Paar Halbstiefel aus Kunstleder und es war eine Hose. In der Tasche fand ich ein von ihm geschmiedetes Messer.

 

Er hinterließ nicht nur ein Messer. Einem jungen Ingenieur, der sich oft bei ihm aufgehalten hatte, weil er die Erfindungen des Handwerkers bewunderte, habe ich den ganzen Inhalt der Werkstatt übergeben. An den Namen kann ich mich nicht erinnern, nur an seine Freude.