Paris (1926-1939)

Wie es dazu kam, daß er in Paris eine Arbeit als technischer Betriebsleiter in einer kleinen Filiale der AEG fand, weiß ich nicht. Er hat seine Fähigkeiten nie hervorgehoben, und ich habe ihn viel zu wenig befragt. Sicher hätte er mir, als er alt war, Einzelheiten gern erzählt; aber man muß selbst lange gelebt haben, um die richtigen Fragen zu stellen.

Siehe: Fertigungsleiter bei MEA

 

Paris 1926. Ein fünfunddreißigjähriger Mann entdeckt die Stadt. Auf den großen Boulevards taucht er in den Strom. Menschen eilen in alle Richtungen, sie weichen sich geschickt aus, umgehen den Entgegenkommenden mit einem leisen „pardon“ und bewegen sich weiter. Es ist halb sieben, die Büros leeren sich. Er setzt sich auf die Terrasse eines Cafés und sieht sie vorübergehen. Schön sind sie nicht. Nur wenige scheinen auf ihre Kleider zu achten. Ist das der Pariser Chic? Er sieht kaum Farben. Die meisten tragen Grautöne, manche Marineblau. Es gibt hier junge Männer, die ohne Hut gehen und ohne Weste unter dem Jackett. Ein schwarzer Erdnussverkäufer zwängt sich durch die Reihe der runden Marmortische. Er schöpft seine raschelnde Ware mit beiden Händen, die ihm als Meßbecher dienen. Die Frau mittleren Alters, die das vierte Mal an der Terrasse vorübergeht, hat sich den Hut bis an die Nasenwurzel in die Stirn gedrückt, ihre Augen sind schwarz umschminkt, und eine Haarsträhne klebt wie ein Fragezeichen auf ihrer Wange, „accroche-cœur“ sagt man hier dazu. Herzangel? Nein, das läßt sich nicht übersetzen. Wozu auch? Er mag nicht vergleichen.

 

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Waldemar Zippel in seinem Auto mit Herta, Paris 1928

Viele Frauen, die eiligen Schrittes vorübergehen, sehen nervös und übermüdet aus. Der dunkelrote Lippenstift, der nur in der Mitte aufgetragen ist und die Spitzen der Oberlippe betont, gibt ihren blassen Gesichtern etwas Hartes. Offensichtlich beginnen die entspannten Züge erst mit einem gewissen Wohlstand. Er beobachtet jeden Einzelnen und liest in der ausdrucksreichen Mimik Lebensgeschichten, die der Gang kommentiert. Sie gehen vorbei, keiner kennt den anderen, das Anonyme befreit sie von der Furcht, erkannt zu werden, die dem Kleinstädter das Gesicht verschließt.

 

Hinter altersgeschwärzten Fassaden gibt es stille, vornehme Innenhöfe zu entdecken. In anderen Vierteln spielt sich der Markt auf der Straße ab. Viele Hausfrauen tragen bei ihren Einkäufen Lockenwickel und Filzschlappen. Die ganze Sinnlichkeit dieser Stadt spielt sich in der Hand des Verkäufers ab, der einen Fisch anbietet, dessen Güte durch genüßliches Auf- und Abwiegen angepriesen wird.

 

Und es ist das Paris der großen Opera und der kleinen Cabarets. Josephine Baker kreiert ihren Bananentanz, Maurice Chevalier singt, steppt und lüftet nach jedem Satz seinen flachen Strohhut. Die Maler stellen ihre Bilder auf den Boulevards aus. Die Avantgarde hat den Montmartre den Touristen überlassen und zeigt sich auf dem Boulevard Raspail in langen Zelten unter der doppelten Platanenallee. Es gibt die großen Cafés, wo man Ausländer trifft, und die kleinen Bistros, wo die Arbeiter mit der Casquette auf dem Kopf ihren mittäglichen Apéritif trinken.

 

Da gibt es den Automobil-Salon mit den neuesten Modellen aus ganz Europa und Amerika; und da gibt es den Flohmarkt, der seinen Namen jenen Tierchen verdankt, die man gratis mit nachhause bringt. Hier ist alles zu haben, was Tausende weggeworfen und Hunderte wieder eingesammelt haben. Wer sich einen Kaninchenstall bauen will oder ein Ersatzteil für sein Fahrrad sucht, geht auf den Flohmarkt.

 

Auf einer am Boden ausgebreiteten Decke findet er zwischen erdfarbenen Lumpen, Drähten, Blech und Schläuchen das begehrte Scharnier. Der Sonntagvormittag ist lang. Irgendwo wird er vielleicht auch die passenden Schrauben entdecken und für sein Kind noch das marokkanische Lederpüppchen mitnehmen, das mit bunten Pailletten beklebt ist. Möglicherweise findet er nichts oder etwas, das er gar nicht gesucht hat und das ihn auf eine Idee bringt; oder er betrachtet ein undefinierbares Ding, das ein anderer gefunden hat und rätselt mit ihm über den Zweck und die Verwendbarkeit dieser Errungenschaft. Die Händler, vorwiegend alte Männer und Frauen, unterscheiden sich kaum von ihrer Ware. An den Rand der Stadt gespült, bieten sie mit den weggeworfenen Gegenständen an, was sie am Leben hält. Der Mann aus Deutschland fragt sich, wer wohl eine gebrauchte Zahnbürste kaufen wird oder einen einzelnen Schuh? Es gibt hier keine Antwort.

 

Die Familie ist in L’Hay-les-Roses, einem südlichen Vorort, untergebracht. Die Kinder sollen nicht im Stadtlärm aufwachsen. Das Häuschen im Garten hat keinen Strom, und das Wasser wird mit dem Eimer aus dem Ziehbrunnen geschöpft. Unter dem Feigenbaum, der ihn beschattet, steht die Hütte für Caro, die Schäferhündin (meine Mutter hielt sie für einen Rüden, bis sie vier Junge gebar).

 

Mein Vater hat wenig Zeit, sich um das Häusliche zu kümmern. Er muß in die Stadt, er muß sich mit Leben vollsaugen, er muß sehen. Und er sieht und wird gesehen.

 

In der kleinen Fabrik, die Elektromotore herstellt, arbeiten zwanzig Wicklerinnen im Akkord. Er organisiert den Ablauf zum Nutzen der Firma und der Arbeiterinnen. Sie mögen diesen wachen Mann mit den großen hellen Augen, der so gut zupacken kann. Hinter einem der zwanzig Wickelapparate sitzt eine Carmen, die ihn nicht aus den Augen läßt, bis ihre Blicke sich begegnen. Er kauft sein erstes Automobil.

 

Meine Mutter hat die Stadt noch kaum gesehen. Sie kann die Kinder nicht alleine lassen. Außer der uralten Hausbesitzerin, die am Ende des Gartens haust, die sich rühmt, ihren Körper noch nie mit Wasser in Berührung gebracht zu haben, und vor der sich die Kinder ängstigen, ist ihr hier noch niemand begegnet. Alleine kann sie die französische Sprache nicht lernen, es fehlt ihr dazu jede Grundlage. Auf dem Markt deutet sie mit dem Finger auf die Ware und vertraut dem Anstand der Händler. Mein Vater kommt nur zu den Mahlzeiten und am Abend wird es immer später. Es gibt zusätzliche Arbeit, es gibt Geschäftsbesuche, die zum Essen ausgeführt werden wollen, und es gibt die Stadt. Der Betrieb hindert ihn aber nicht, ein guter Vater zu sein.

 

Herta wird krank. Jetzt bemerkt er, daß ihr Bett, das an der Wand steht, sich anfühlt wie ein nasser Schwamm, und daß manches im Argen liegt, was ihm verschwiegen wurde. Er setzt sich sofort in Bewegung und sucht eine neue Behausung. Alsbald findet er unweit in Bourg-la-Reine einen „Pavillon“, eines jener erstaunlichen Bauwerke, die sich Arbeiter nach Feierabend selbst aufmauern und deren Standfestigkeit ganz in Gottes Hand liegt. Dieses hier besteht aus zwei Stockwerken mit je zwei Räumen, vier bis fünf Schritte im Quadrat, einem Klosett, das sich ins Treppenhaus entlüftet und darüber eine Besenkammer. Der Maurer hat wohl herausgefunden, daß er mit den Backsteinen weiterkommt, wenn er sie hochkantig setzt. Entsprechend dünn sind die Wände. Die Fenster reichen bis nahe an den Boden, und der offene Kamin spendet keine Wärme.

 

Es gibt viel zu tun, um das Haus wohnlich zu machen. Als erstes bricht mein Vater ein Klosettfenster aus und setzt einen flachen Salamander-Ofen in den Kamin. Die Mutter betupft die gekalkten Wände mit einem farbgetränkten Schwamm, was ein sich nie wiederholendes Muster ergibt, in dem wir vom Bett aus immer neue Figuren entdecken. Er freut sich an dem phantasievollen Werk und wendet sich weiter dem Praktischen zu: Er zimmert eine Garage, die er mit Dachpappe deckt, baut hinter dem Haus mit Winkeleisen und Wellblech eine Laube, die bald mit wildem Wein überwachsen ist. Er zieht in die Mitte des schmalen Gartens einen Weg, den er mit einer Ladung Flußkies bedeckt, legt Blumenbeete an, pflanzt Nelken, Gladiolen und Karotten für die Kinder.

 

Die Möblierung geschieht nicht nach einem Plan. Es sind die Trophäen seiner Streifzüge, die das Haus im Lauf der Zeit füllen. Er nennt sie „Gelegenheitskäufe“. Im Wohnzimmer müssen die Stühle dicht an den Tisch gerückt werden, damit die Kredenzschublade geöffnet werden kann; für die Louis-quinze-Sitzgarnitur mit den geschwungenen Goldbeinen ist nur noch im Elternschlafzimmer am Fußende der Betten Platz, und so schwer sind die Stühle nicht, daß sie vor dem Öffnen des Fensters nicht beiseite gerückt werden können. Allerdings gibt es Probleme mit dem Kaktusständer. Mit etwas gutem Willen läßt sich der Bücherschrank an die Längsseite der Betten stellen.

 

Mit hochgezogenen Augenbrauen erklärt uns der Vater, daß es sich hier um Wertarbeit handelt, die am Schliff der Glasscheiben zu erkennen ist. Nach und nach füllt sich dieser Schrank mit kostbaren Büchern, die er am Seineufer bei den Bouquinisten erstöbert. Seine Hand streicht über die geprägten Lederrücken, und die Töchter dürfen mit dem Finger den Rand der Kupferstiche berühren, dessen zarter Wulst die Echtheit verbürgt. Er begeistert sich für den handgesetzten Druck und für das griffige Papier. Von den hundert Büchern wird er nie eines lesen; daß sie gut sind, weiß er aus den Fingerspitzen, und er hat recht.

 

Das Lesen empfiehlt er seinen Töchtern, dafür schickt er sie ja in die Schule. Er selbst mutet sich nicht zu, länger als zehn Minuten auf einem Stuhl zu sitzen. Er ist unaufhörlich in Bewegung, nimmt etwas in die Hand, aus dem er etwas herstellt oder das es zu reparieren gilt. Im Nu wird das ganze Haus zur Baustelle. Frau und Töchter müssen laufen und suchen. „Da hat mal wieder einer das Lötzinn fortgeschleppt! Wo ist die Flachzange? Kinder, ihr könnt doch die Salzsäureflasche nicht einfach offen stehen lassen!“ Wenn er beim Lackieren Farbe übrig hat, schaut er sich, mit dem Pinsel in der Schwebe, im Kreise um, wo es noch etwas anzumalen gibt. So kommt es dann zu dem lila Küchenhocker und zu dem blattvergoldeten Holzknauf am Treppengeländer. Im Eßzimmer wird gesägt und geraspelt, und in der Küche kocht der Leim im Wasserbad. Ungeachtet der Außentemperatur macht er nie eine Tür hinter sich zu, „dafür sind die Weiber da“, wenn es der Luftzug nicht vorher besorgt. Verläßt er endlich das Haus, um in die Stadt zu fahren, tritt eine Stille ein, die das entspannte Ausatmen der Zurückgebliebenen hörbar werden läßt, bevor die Aufräumarbeit beginnt.

 

„Et quand reviendra le temps des cerises“ – beim Rasieren gut gelaunt singt er die neuesten Chansons und denkt beim Abziehen des Messers auf dem elastischen Lederriemen an Lucienne Boyer, die er am Abend zuvor im Casino erlebt hat. Den letzten Schliff führt er schwungvoll über den Handballen, bevor er die Schneide an die Wange setzt. „Parlez moi d’amour...“

 

Meine Mutter versteht diese Lieder nicht. Sie sind ihr so fremd wie die Sprache. Und mein Vater versteht nicht, daß sie immer müde ist. Er weiß, daß sie im Winter ganze Nachmittage auf dem Fußboden vor dem Kamin liegt, wenn es im Schlafzimmer zu kalt ist. Vielleicht ist sie unglücklich? Gestern abend wurde es wieder sehr spät, hat sie etwas gemerkt? Aber, zum Teufel, für wen schuftet er den ganzen Tag und rackert sich ab? Das bißchen Haushalt ist doch nicht die Welt! Andere Frauen führen ein Geschäft mit ihrem Mann. Könnte sie nicht etwas aktiver sein? Er nimmt ihr doch alle Sorgen ab! Warum unternimmt sie nichts, warum geht sie nicht aus und lernt Leute kennen? Na ja, mit diesem Radebrechen kommt sie nicht weit, da blamiert sie sich nur! Er betrachtet sie mit herabgezogenen Mundwinkeln und sucht in der Verachtung einen Ausweg aus der Beklemmung seines schlechten Gewissens.

 

Mein Vater hat seinem ungarischen Sprachlehrer aus der Gefangenschaft die Treue gehalten, dieser führt in der Rue Voltaire eine desolate Existenz als Schuhmacher. Er besucht den Freund in seiner modrigen Kammer, die ihm als Werkstatt dient, und fordert ihn auf, seiner Frau Französisch beizubringen.

 

Er freut sich, hiermit zwei Menschen aus der Not zu helfen. Der gelbgehungerte Professor kommt pünktlich jeden Montag um vier und setzt sich neben meine Mutter an den Eßzimmertisch. Jetzt ist es nicht mehr die Müdigkeit, sondern der unerträgliche Mundgeruch des Herrn Grützliak, der ihr den Zugang zur französischen Sprache verwehrt. Mein Vater wird immer ungeduldiger. Könnte sie nicht irgend eine Initiative ergreifen? Warum fordert sie nichts für sich? Immer diese schwäbische Genügsamkeit, dieser Ernst und dieses Schweigen!

 

Ja, sie schweigt, wenn er geht, und sie schweigt, wenn er im Morgengrauen nach Hause kommt; nie stellt sie ihn zur Rede, er ist doch auch nur ein Mensch! Sie bietet keinen Widerstand, sie schweigt und schweigt, als merke sie nichts und als wolle sie nichts. Vielleicht will sie wirklich nichts, womöglich genügen ihr ihre Kinder und es stimmt, daß sie am liebsten allein ist. Das kann sie haben, so viel sie will! Wenn sein Zorn auch kein guter Ratgeber ist, ist er allemal eine Entscheidungshilfe.

 

Yvonne ist ein Weib. Sie kehrt mit dem Handrücken alles über den Tisch, wenn ihr etwas nicht paßt. Sie ist eifersüchtig und von aufregender Schamlosigkeit. Wenn sie sich hinsetzt, kracht der Stuhl. Sie fühlt sich sicher in den Lokalen. Manchmal lacht sie etwas laut, aber beim Essen ist sie ganz bei der Sache. Sie weiß, welche Weine zu den einzelnen Gängen passen und scheut sich nicht, ein zähes Beefsteak wieder retour gehen zu lassen. Sie hat Rasse, mit ihr könnte er einen Betrieb aufziehen. Sie kann mit den Leuten umgehen und hat immer das letzte Wort. Und sie hat Temperament! Die kurzen Besuche genügen ihr nicht: „Wie ist es am Sonntag? Oder mußt Du wieder den Papi spielen?“

 

Am Sonntag früh sitzen die Kinder schon wartend auf der Staffel. Mutter hat die Picknicktasche gepackt und den Kaffee in die Thermosflasche gefüllt. Der Himmel ist wolkenlos!

 

Ist es ein Kragenknopf, der fehlt, oder ein noch geringerer Anlaß? Der Krach sitzt. Er stürzt aus dem Haus. Die Kinder beobachten stumm, wie er mit Wucht den Motor ankurbelt, den Schlag aufreißt, in den Wagen steigt und ohne sie losfährt. Im Rückspiegel sieht er noch, wie die beiden das Gartentor zur Garage zudrücken. Er fährt über die Route d’Orléans. Der Kragen ist zu eng, er zerrt am Schlips und reißt ihn auf. Das wäre geschafft!

 

Sie wartet schon. Er fährt mit ihr nach St. Cloud, sie kennt dort ein gutes Restaurant. Beim Essen merkt er, daß sein Magen nicht ganz in Ordnung ist. Mitten in der Nacht fährt er nach Hause. Er weiß, daß sie nicht schläft, sie wird noch lange gelesen haben und jetzt mit geschlossenen Augen auf dem Rücken liegen, nichts sagen und nichts fragen. Er stellt den Motor ab und läßt den Wagen bis zur Garage rollen, um die Nachbarn nicht zu wecken. Doch eine hat’s gehört: die Gans! Sie hat ihr Nest im Autoreifen unter der Laube verlassen und kommt ihm laut schreiend, mit ausgebreiteten Flügeln entgegen. Hier und dort gehen die Lichter an. Mein Vater lacht. Auch meine Mutter sitzt lachend im Bett und erzählt ihm die Geschichte von der Belagerung des Capitols.

 

Der Sommer hat viele Sonntage. Fast jeder zweite gehört der Familie. Im April werden in den Wäldern um Paris Osterglocken gepflückt und im September die Brombeeren. Wanderpfade gibt es in diesen Gegenden nicht. Er geht mit uns Kindern durch das Dickicht, fängt eine Schlange, die er vorsichtig in die Brotkapsel einsperrt, da man nicht wissen kann, ob sie giftig ist; er schnappt eine Kreuzspinne, die dann zu Hause, mit einem Tropfen Benzin betäubt, unter das Mikroskop gelegt wird; er findet ein Geweih, das ihn zu allerlei zynischen Bemerkungen anregt und bringt uns das Klettern bei. Meine Mutter hütet so lange das Auto.

 

Da er am liebsten fährt, wo es keine Wege gibt, vergeht kaum eine Tour, ohne daß der Wagen stecken bleibt. Dann beginnt das große Manöver: Steine herbeischaffen, Äste brechen, Reisig suchen, unterlegen, drücken, schieben. Die schleifenden Räder schleudern den Schlamm mit den Stöcken hinter sich. Alles beginnt von vorn, bis die Schlafdecke meiner Mutter den griffigen Widerstand ermöglicht, der uns aus der Patsche hilft. Nachdem uns der Vater die Hebelwirkung der Stöcke vorgeführt hat, und wir die Zentrifugalkraft in der Praxis erleben durften, geht die Fahrt wieder heimwärts. Und es war ein schöner Sonntag.

 

Das Lesen, ich sagte es schon, ist keine Beschäftigung, für die mein Vater die Geduld aufbringt. Auch geht er nicht gerne ins Kino, wo man sich über eine Stunde lang das ansehen muß, was sich andere ausgedacht haben. Die Tageszeitung und die Wochenschau, die im Cineac gezeigt wird, wo man jederzeit aus- und eingehen kann, genügen ihm, um sich auf dem Laufenden zu halten. Museen und Ausstellungen dagegen besucht er oft, dorthin nimmt er auch gerne seine Kinder mit. Es geht ihm nicht um Bildung, die ist und bleibt ihm suspekt; es geht ihm um das Schöne, das ein Maler in der Wirklichkeit entdeckt und ihm mitteilt.

 

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Porträt Wilhelm Uhde von Helmut Kolle, um 1930

Der Kubismus, der Surrealismus und diese neuen Ismen mit ihren gescheiten Namen, die man um Gottes Willen nicht verstehen darf, sind etwas für die Intellektuellen. Er will mit den Augen sehen.

 

Er lernt Wilhelm Uhde kennen, der ihm in einer weiträumigen Wohnung, der Beletage in der Rue de Grenelle, seine Sammlung zeigt. Hier sieht er Bilder, die liebevoll gemalt sind, auf denen alles zu erkennen ist: jeder Backstein im Gemäuer, jeder Pflasterstein auf der Straße; Blumen sind sorgfältig ausgemalt und wachsen richtig am Stiel. Bäume, Fußgänger, Autos, alle halten denselben Abstand, wie die Schwalben auf den Stromleitungen, wie die Seerosen im Teich, wo kein Blatt ein anderes überdeckt.

 

Der Naturfreund fühlt sich angesprochen. „Was sind das für Maler?“ „Es sind Menschen“, erwidert ihm der Kunstsammler, „Gärtner, Handwerker, Straßenarbeiter, Zöllner, Eisenbahner, die Bilder malen, weil sie etwas sehen, das sie festhalten möchten, oder sich etwas Wunderbares vorstellen, das sie verwirklichen wollen. Ist der Alltag auch grau und voll unliebsamer Zwänge, bietet der Sonntag ihnen doch die Möglichkeit, in eine farbige Welt zu entkommen, wo nicht der Zufall regiert, sondern eine heitere Ordnung, die man sich selber schafft. Sie malen aus dem Herzen.“

 

Uhde sucht diese Sonderlinge auf. Er entdeckt sie, oft zufällig, in dichtbesiedelten Wohngegenden oder in abgelegenen Dörfern. Sie wissen nichts voneinander, und die meisten ahnen nicht, daß sie Künstler sind. Viele Jahre später werden sie als „Peintres Primitifs“ ihren Platz in den Museen haben. Jetzt sind sie noch belächelte Originale mit Namen wie Farge, Vivin, Bombois, Gody und Rousseau.

 

Uhde führt seinen Gast in einen Raum, wo zwei große Ölgemälde, lichtgeschützt, noch auf den Firnis warten. Sie zeigen dunkle, merkwürdige Gebinde aus Vogelfedern, die über einem türkisblauen Fluß schweben. Der hochgewachsene Ostpreuße deckt die Bilder wieder zu und erzählt, er habe vor etwa zwanzig Jahren in Senlis in der Bahnhofswirtschaft auf den Zug gewartet. Dort hingen zwei ähnliche Gemälde. Auf seine Frage nach dem Urheber sei der Gastwirt in Verlegenheit geraten: die Putzfrau habe sie gemalt. Ab und zu gerate sie in Trance und zöge sich in ihre Kammer zurück. Man müsse sie machen lassen, sonst würde sie noch ganz verrückt, aber in normalen Zeiten sei die Séraphine Louis eine ganz vernünftige Frau.

 

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Gemälde von Olga Serboioff

Mein Vater staunt: „Wie kann jemand ungelernt eine solche Kunst hervorbringen?“ „Der Wunsch zu malen, um sich die Zeit damit zu vertreiben,“ fährt Uhde fort, „genügt nicht. Es muß ein Wille da sein. Diese Frau ist besessen, der Wirt hat es richtig erkannt. Sie befindet sich in einer Not, die sie keinem mitteilen kann. Sie führt den Dialog mit den Farben und läßt aus ihrer Verzweiflung Blumen wachsen.“ Die hohe Fistelstimme irritiert meinen Vater, aber er läßt sich nichts anmerken. Was der Mann da sagt, gibt ihm viel zu denken. Der Sammler indes hat seine Freude an den wachen Augen des Mannes, der sich noch wundern kann. Er öffnet eine Tapetentür und holt ein kleines Ölgemälde hervor, stellt es auf den Kaminsims und beobachtet seinen Gast. Das Bild zeigt ein jungvermähltes Paar in einer Gartenwirtschaft. Mann und Frau sitzen steif an einem runden Marmortisch, mit dem gleichen schwarzen Böller behütet. Mein Vater zieht einen schiefen Mund und meint, das Bild sei recht naiv. Doch Uhde kann sich mit dieser Bezeichnung nicht abfinden: „Was mich zu diesen Malern hinzieht, ist ihre Eigenständigkeit. Sie richten sich nach keiner Schule; der Zeitgeist, die Mode, gehen unbemerkt an ihnen vorbei. Sie schaffen ohne Vorbilder, nur nach der Natur, wie sie sie erleben. Ihre Träume, ihre Wunschbilder sind Realität, die sie ohne Sorge um einen Stil direkt darstellen. Deshalb nenne ich sie „Peintres Primitifs“. Mein Vater tritt näher an das Bild heran und versucht, die Signatur zu entziffern. Olga Serboioff, erfährt er, eine russische Emigrantin, die in Paris lebte.

 

Riesige Ölgemälde ziehen alsbald in unser Häuschen ein. Zwei Kathedralen bedecken je eine Wand des Eßzimmers. Mein Vater hängt sie ungerahmt mit zwei Nägeln, die unter die Keilrahmen greifen, unter die Decke, tritt zurück, so weit es der kleine Raum gestattet, betrachtet seine Errungenschaft mit Kennerblick aus halb zugekniffenen Augen und weist auf die Einzelheiten hin, die wir bitte zu beachten haben. Später folgen eine weitere Kathedrale von Farge, die im Schlafzimmer ihren Platz findet, fürs Kinderzimmer ein einsamer Bauernhof von Jean Eva, zwei Straßenbilder vom Montmartre von Gody und das Hochzeitspaar der russischen Emigrantin, das heute noch an meiner Wand hängt. Doch zur Krönung seiner Sammlung beauftragt er einen Kopisten im Louvre mit der Nachbildung der „Zigeunerin“ von Franz Hals. Diese lächelt noch viel feiner als das Original.

 

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