Elfriede (1956-1959)
In der Dienstmädchenkammer neben der Werkstatt schlief Elfriede, die Haus- und Ladengehilfin des Drogisten, der sein Geschäft im Parterre betrieb. Nach Feierabend half sie meinem Vater mit der Korrespondenz. Sie nannte ihn Chef, und er diktierte ihr Briefe, indem er, weiß Gott wie, in der Werkstatt auf- und abging, mit in die Armlöcher der Weste eingehängten Daumen. „Sehr geehrte Herren“, er gurgelte förmlich mit Wörtern wie „obiges“, „dasselbe“, „speziell“ oder „meine Gehilfen“ und vermied das Fürwort in der ersten Person, indem er es einfach wegließ; oder er benutzte den Pluralis Majestatis wie eine Firma, die etwas auf sich hält. Elfriede schrieb, ordnete Briefmarken, die sie zuvor in Streifen gerissen hatte und ziehharmonikamäßig nach Wert gestaffelt in ein Kästchen steckte. „Sie ist ein Einkaufsgenie!“ begeisterte sich mein Vater, als sie ihm verbilligtes Waschbenzin und weiche Poliertücher besorgt hatte.
Sie wurde auch der Genius seiner einsamen Nächte. Endlich war da wieder ein weibliches Wesen, das ihn bewunderte und das bei seinen Ratschlägen nicht die Augenlider lang zog, wie es seine Töchter zu tun beliebten; jemand, der ihn ernst nahm und der sich mit seinen Lebenserfahrungen vollsog. Elfriede war ein von der Natur vernachlässigtes Kind. Ihr verzwergter Wuchs und ihr kurzsichtiges Blinzeln hinter den Ringen dicker Brillengläser hemmten keineswegs die Energie, mit der sie den Chef umsorgte. Sie kann nicht sein Schönheitsideal gewesen sein, aber die Unerfahrenheit des jungen Wesens verlangte nach Belehrung.
Er war schon längst in das Alter gekommen, das aus jedem Mann einen Lehrmeister macht. Die Beispiele seiner Lebensweisheit schöpfte er aus der eigenen Vergangenheit. Das Wort entbindet die Erinnerung. Von sich berichten, heißt, ein zweites Mal leben, ein zweites Mal jung sein, und der Erzählende steigt wie ein Phoenix aus der Asche. Die Neuschöpfung des eigenen Ich erfährt auf diesem Wege eine wunderbare Läuterung. Weg sind die Peinlichkeiten, dahin das schlechte Gewissen mit den falschen Reaktionen. Der Held gibt lieber eine verlorene Schlacht zu als eine Geschmacklosigkeit. Ja, die Niederlagen dürfen getrost eingestanden werden, denn sie öffnen dem Humor die Pforte, und wenn der Zuhörer lacht, ist es in jedem Fall ein Sieg. Doch der Abstand, den das Lachen schafft, ist nicht immer erwünscht. Die tragischen Erlebnisse werden der Geliebten bei Kerzenlicht ans Herz gelegt. Durch die dünne Wand der Kammer drang das nächtliche Gemurmel, das ab und an vom Gongschlag des Regulators übertönt wurde.
Die gelehrige Schülerin begnügte sich nicht mit dem abendlichen Zuhören. Sie wollte eine Lebensgemeinschaft, in der sie eine ganztägige Rolle übernehmen konnte. Sie suchte und fand im Westen der Stadt eine geräumige Zweizimmerwohnung und organisierte den Umzug.
Bevor ich meinen Vater mit der Werkstatt in die Bebelstraße ziehen lasse möchte ich noch etwas verweilen, denn so einfach wie die Fakten sind die Begleitumstände nicht. Dem Familienoberhaupt war die ganze Sache peinlich. Da waren zuerst seine Töchter. Die Ältere verdiente den Lebensunterhalt mit Schaufensterdekorationen und sorgte dafür, daß täglich etwas Eßbares auf den Tisch kam. Die Jüngere hatte Flöhe im Kopf, sie hatte eine gut bezahlte Stellung als Dolmetscherin gekündigt, um Bildhauerei zu studieren, ein brotloser Beruf. Dafür konnte er kein Verständnis aufbringen. Er fühlte sich von beiden kritisch beobachtet. Die Große hatte Lebenserfahrung, sie stand ihm am nächsten, sie hatte seine Neugier geerbt, sein Temperament, sie verstand Spaß. Mit ihr konnte man einen Streifzug durch die Altstadt machen und sich bei einem guten Viertel Haberschlachter mit den Leuten unterhalten. Aber die andere, die war ihm zu gescheit, ja, hochmütig und zimperlich. Sie hatte die Humorlosigkeit der Asketen, genau gesagt, eine richtige alte Jungfer. Sie hatte solch ein Schweigen an sich, von dem man nie weiß, was dahinter steckt, ein ganz anderes, als das ihrer Mutter. „Euere Mutter ist eine biblische Gestalt“ sagte er des öfteren. Er hatte das Buch der Bücher nie gelesen, meinte aber, eine Heilige, einen Menschen, der das Schlechte nicht kennt, eine Dulderin, die ein langes Eheleben lang ihm alles nachgesehen hatte.
Was ist eine Familie? Verschiedene Köpfe, unterschiedliche Temperamente, aber man gehört zusammen, man hat sich aneinander gewöhnt. Da ist nichts Aufregendes mehr, du kennst jede, und sie kennen deine Geschichten. Sie durchschauen dich, du bist nichts Neues für sie, du bist alt. Und da hatte er sich eine neue Verantwortung aufgeladen. Wie sollte er ihnen Elfriede nahebringen? Schön war sie nicht, sie hatte auch keine Bildung, nichts, was vor dem kritischen Blick der gleichaltrigen Töchter bestehen konnte. Aber sie hatte ihnen allen etwas voraus: sie war ein ungeliebtes Waisenkind, das nur so herumgestoßen worden war. Sie hatte unglaublich tapfer um ihre Existenz gekämpft und eine Drogistenlehre bestanden.
Die drei reagierten nicht auf seine Elogen. Sie waren wie eine Mauer. Dorothee schloß er in seine peinvollen Überlegungen nicht ein, sie war noch ein Kind. Ihre Unschuld setzte sie über alle Konventionen hinweg. Sie tänzelte nach wie vor in die Werkstatt und sah ihm beim Arbeiten zu. Elfriede fürchtete die-da-drüben, von denen sie nur eine dünne Gipswand trennte. Nach einem heftigen Streit mit dem Drogisten blieb sie ganztägig in der Werkstatt.
Jetzt hatte sich seine Verantwortung materialisiert. Nach dem Mittagessen schöpfte er nochmals seinen Teller voll und trug ihn hinüber, in die Kammer. Zum ersten Mal sah ich meinen Vater mit rundem Rücken und eingezogenem Hals.
Den Auszug des Vaters habe ich nicht miterlebt, weil ich schon zuvor die Dachwohnung verlassen hatte; doch wenn mein Bericht manche Lücke aufweist, so liegt der Grund hierfür nicht an der räumlichen Distanz. Das Erwachsenwerden und die Gründung der eigenen Existenz sind ein schwieriges Geschäft, das die ganze Aufmerksamkeit für sich beansprucht. Da treten die Eltern in den Hintergrund, wo sie eine Zeitlang ein Silhouettendasein führen, bis sie die Arme nach uns strecken und hilfesuchend wieder plastische Gestalt annehmen.
Die Uhrmacher-Werkstatt hatte sich nun im Stuttgarter Westen auf das Maß eines bürgerlichen Eßzimmers vergrößert. In dem Raum befand sich aber nur eine Steckdose. Die elektrischen Kabel für diverse Maschinen und Apparate liefen kreuz und quer über Tische, Kisten und Kommoden und vereinigten sich unter dem Bett zu einem Tausendfüßler, den der Chef die Verteilerstation nannte. Die Möblierung des Wohnraumes setzte sich aus Entrümplungsfundstücken zusammen. Es gab auch ein Badezimmer, in dem sich die Pappkartons aus Elfriedes ambulantem Kosmetikhandel stapelten. Der meistgepriesene Raum war die Küche, wo sich mein Vater als Meisterkoch hervortat.
So wie der Architekt stets seinen 5B-Stift bei sich trägt und der Diamantenhändler seine Lupe, befanden sich in Vaters Hosentasche zwei Topflappen. Da er sich zum Ausgehen nicht gerne umzog, waren sie in jeder Situation griffbereit. Eine Freundin hatte mir Freikarten für ein Konzert gegeben, in dem sie den Klavierpart spielte. Sie hatte seine Kochkunst und seinen Tischwein gelobt, so wollte auch er ihr Können auf dem Podium erleben. Ich holte ihn am Abend ab. Er fand es lächerlich, daß ich bei jeder roten Ampel den Wagen zum Halten brachte, wo doch links und rechts kein Fahrzeug in Sicht war. Im Foyer der Liederhalle fiel mir auf, daß sein Anzug noch Spuren aus Küche und Werkstatt trug. Nicht ohne mich mit einem Seitenblick zu beobachten, schritt er mit brennender Zigarre in den Beethovensaal. Auf meinen Einwand hin wollte er nicht einsehen, weshalb er nicht als einziger rauchen dürfe, der Raum sei doch groß genug. Erst der höfliche Verweis des Beschließers bewog ihn, nachzugeben. Er zog ein Messingrohr aus der Jackentasche, ließ den Stumpen mit der Glut nach oben vorsichtig hineingleiten und steckte es in die Brusttasche. Beim Allegro kam mir der säuerliche Geruch seiner Zigarre, Marke Fehlfarbe, in die Nase. Ein dünner Rauchfaden stieg aus Vaters Revers, quergestrichen durch das breite Grinsen des Siegers. Als sich mehrere Köpfe der vorderen Reihe nach ihm umdrehten, schneuzte er sich kräftig in einen Topflappen.
Ich war nicht die einzige, deren konventionelle Attitüden er auszutreiben sich bemühte. Wenn jemand ausdrücklich auf gute Manieren bedacht war, ließ er sich gerne etwas einfallen. So pinkelte er, frisch verliebt, mit kräftigem Strahl „Elfriede“ in den Schnee, direkt vor dem Gasthof der Naturfreunde im Mahdental, wo er mit seiner Gefährtin und Enkelin zu Mittag gegessen hatte. Dorothee bewunderte Großvaters schwungvolle Kursivschrift, während Elfriede mit faustigem Zorn das Kunstwerk zertrampelte.
Das Paar lebte einige Jahre in relativer Harmonie, bis ein Zeuge Jehovas, der von Tür zu Tür verlorene Seelen einsammelte, bei Elfriede Gehör fand. Mein Vater hatte sich der Religion gegenüber stets ironisch-tolerant verhalten, in diesem Fall jedoch schien ihm die Bekehrung der Seele übergriffig zu werden, denn die Besuche des jungen Mannes häuften sich.
Ich saß in meiner neubezogenen Atelierwohnung mit einem Schriftsteller und einer Verlegerin volkstümlicher Romane beim Abendbrot. Sie erkundigten sich nach meinem Vater, denn sie hörten gerne Berichte aus einem anderen Milieu. Meine Erzählung unterbrachen sie bald mit Kopfschütteln: dies sei doch wohl wieder eine typisch zippelsche Übertreibung! Ich wollte ihnen versichern, daß ich nichts erfinde, als das Telefon klingelte. Es meldete sich das 1. Polizeirevier. Nach dem Gespräch, das meine Freunde mit gestrecktem Hals verfolgt hatten, entschuldigte ich mich: mein Vater habe auf seinen Nebenbuhler geschossen und befände sich auf der Polizeiwache in Haft. Ich müsse sofort zu ihm gehen.
Auf der Station erfuhr ich näheres über den Vorfall. Er hatte sich um 20 Uhr in seiner Werkstatt aufgehalten, wo er Stimmen aus dem Nebenraum vernahm. Es wurde gelacht. Da war also nicht mehr von Jehova die Rede. Der Hintergangene nahm seinen Revolver aus der Werkzeugkiste und schoß durch das zwischen beiden Räumen offene Warmluftgitter des Kachelofens auf seinen Rivalen. Er hatte ihn offensichtlich nicht getroffen. Das konnte er auch nicht, wie mir der Wachtmeister anhand des Schießwerkzeuges demonstrierte, das ich gerne in meine Sammlung aufgenommen hätte. Leider wurde es behördlich konfisziert, dafür bekam ich den Vater mit. Elfriede verließ noch in der selben Nacht die gemeinsame Wohnung.
Er war alleine, zum ersten Mal alleine. Sie war eine energische Person gewesen, die sich nichts gefallen ließ, man konnte mit ihr streiten, denn sie setzte sich zur Wehr. Bei Auseinandersetzungen merkt man erst richtig, daß man lebt. Ihr habe es doch auch gut getan. Manchmal war sie über viele Tage beleidigt. Frauen sind so. Dafür konnte sie sich freuen, wenn er etwas mitbrachte. Wenn er heimkam, war sie da, und wenn sie außer Haus ging, konnte er auf sie warten. Durch diese Tür kam sie immer in die Werkstatt. Jetzt steht sie halb offen, unbeweglich, erstarrt, tot, ja tot, wie die Möbel, die sich nichts mehr zu sagen haben. Und nebenan gähnt ihre Abwesenheit. Die Stühle wirken wie abgestellte Prothesen und die Vorhänge verwelken an den Fenstern. Die schweigenden Wände sind ein Vorgeschmack des Grabes. Ohne Zuhörer gibt es keine Worte, und das Denken des Verstummten dreht sich im Kreis; es wirbelt sich in einen Trichter, zu einem saugenden Mittelpunkt: Elfriede.
Mein Vater war nicht der Mann, der eine Erinnerung in Demut hinnimmt. Da er das Verlorene nicht zurückgewinnen konnte, stand für ihn nur noch ein Weg offen, seinen Schmerz loszuwerden, indem er ihn der Verursacherin zurückgab und das entwertete, was er vergeblich entbehrte. Er schrieb ihr Briefe, böse Briefe, beleidigende Briefe, die er noch vor dem Abschicken meiner Schwester vorlas. Es tat ihm gut, daß ein Ohr da war, das die Worte horte, deren Wirkung am Ziel er ja nicht auskosten konnte. Und es war gut, daß seine Tochter ihn davon abhielt, ein verlorenes Spiel in Unwürde zu besiegeln. Das Geschriebene las er sich selbst wohl noch eine Weile vor und ließ es dann verschwinden.