Bis zum Ende des 1. Weltkriegs (1891-1918)
Der Rosenstock, den er hinter die selbstgezimmerte Garage gepflanzt hatte, war eingegangen, aber die Stöcke, die ihn stützen sollten, grünten und ergaben im Lauf der Jahre eine Kaskade wilder Rosen. Mein Vater hat sich nicht darüber gewundert, er war mit den Launen der Natur vertraut.
In Berlin an einem Sonntag geboren, dem 23. August 1891, war er der Älteste von vier Geschwistern. Sein Vater, von dem es hieß, er sei ein „feiner Mann“, muß zeitlebens an irgendwelchen Erfindungen gebastelt haben, für die er sich vergeblich um Patente bemühte. Er blieb zwar ein erfolgloser kleiner Angestellter, aber mit seinem stillen Tun gab er sich und seiner Familie die Hoffnung, eines Tages von der Bedürftigkeit befreit zu sein. Meine Großmutter, eine schmalschultrige, harthüftige Frau, fühlte sich durch die Zukunftsträume ihres Mannes bereits in einen höheren Stand versetzt. Nichts war ihr wichtiger als die Meinung der Leute. Ich sehe sie noch, wie sie steifleibig mit kleinen Schritten trippelte. Ihre Handtasche hing am abgewinkelten Arm. Sie trug immer nur einen Handschuh, mit dem sie den anderen umklammerte. „Das macht man so!“ war die einzige, sich stets wiederholende Antwort auf alle Fragen, zu denen mich ihr Gehabe reizte. Sie hat bis ins hohe Alter die Rolle des Püppchens durchgehalten, die in ihrer Jugend üblich war. Um den begehrten Kirschmund zu mimen, zog sie noch die trockenen Lippen auf einen Punkt zusammen.
Sie konnte sich über nichts freuen; sie wollte nur stolz auf etwas sein: stolz auf ihren ältesten Sohn, der in Paris lebte, und den sie nach dem Tod ihres Mannes alljährlich besuchte, stolz auf sein Automobil und stolz auf ihre Enkel, die etwas Besonderes sein mußten. Nur meine Mutter verschonte sie mit ihrem Stolz, diese machte zu wenig von sich her, sie war keine „feine Dame“. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Menschen so gehaßt zu haben, wie meine Großmutter. Verschärft wurde diese Abneigung noch dadurch, daß sie mich über alles liebte und meiner Schwester vorzog.
Mein Vater sprach kaum von seinen Eltern. Sie hatten offensichtlich wenig Einfluss auf seine Entwicklung gehabt. In der ängstlich auf gute Manieren bedachten Familie muß er ein Außenseiter gewesen sein. Die Prügel, die er als Einziger unter den Geschwistern bezog, haben bei ihm keinen bleibenden Eindruck hinterlassen, er hat sie nicht an seine Kinder weitergegeben.
Er war jeder Form von Gewalt abgeneigt. Als ihn sein Firmeninhaber zur Jagd eingeladen hatte, wurde ihm ein Hase zugetrieben. Er sollte schießen. Er sah das schöne Tier und kam mit dem Gewehr nicht zurecht. Der Hase hoppelte gemächlich davon. Es gab keinen Braten, dafür aber eine bleibende Anekdote: Ein ausgewachsener Deutscher, ein Boche, der kurz nach einem vierjährigen Krieg nicht schießen kann!
Mein Vater hatte nicht nur den Hasen verpaßt, sondern den ganzen Weltkrieg. Körperlich agil, war er kein ängstlicher Mann. Er hätte vielleicht einen guten Soldaten abgegeben, nur befand er sich bei der Kriegserklärung zufällig in Paris, wo er nach bestandener Gesellenprüfung sein „Wanderjahr“ zu verbringen gedachte. So kam er kurzerhand in zivile Gefangenschaft.
In einem stillgelegten Fabrikgebäude, in der Normandie, trafen sich Männer aller Nationalitäten: Geschäftsleute, Wissenschaftler, Arbeiter und Künstler mengten sich mit Insassen geleerter Gefängnisse und teilten das Stroh mit ihnen. Es wurde gehungert und gefroren. Läuse und Flöhe überfielen die Kranken, von denen manche so apathisch wurden, daß sie sich gegen das Ungeziefer nicht mehr wehrten.
Der junge Mechaniker wollte sich mit diesem Mißstand nicht abfinden. Er schweißte einen Heizkessel und installierte mit Material, das er in dem Fabrikgebäude fand, eine Dusche. Er sorgte nicht nur für Hygiene, er schaffte auch Nahrung herbei. Die meisten Bauern und Handwerker der Umgebung waren im Krieg. So erhielt er die Erlaubnis, das Lager zu verlassen, um auf den Höfen vieles instandzusetzen, was zu Bruch gegangen war. Er flickte Kessel, reparierte Pferdewagen und allerlei Geräte der Landwirtschaft. Er war ein gern gesehener Helfer, was er sich in Naturalien vergüten ließ. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. wenn er reich beladen ins Lager zurückkam. In diesen Augenblicken erlebte er die Glückseligkeit des Gebenden in ungetrübter Form. Von einem chinesischen Schiffskoch ließ er sich in die Geheimnisse der französischen Gastronomie einführen, der Maler Werner Gilles schenkte ihm ein Bild, von einem ungarischen Professor lernte er die französische Sprache. So hat mein Vater den ersten Weltkrieg überstanden. Eine Fotografie zeigt einen dunklen Lockenkopf mit großen, hellen Augen, die durch ein vergittertes Kellerfenster blicken. Vermutlich eine Inszenierung für die besorgte Braut in der Heimat.