Rubens und die Kalbsköpfe

Jeden Dienstag und Freitag war Markt in Bourg-la-Reine. Da durfte ich mit. An die Maschen des Einkaufsnetzes geklammert, ging ich neben meiner Mutter durch die Platanenallee. Damit ich während der Einkäufe im Gedränge nicht verloren ging, wurde ich am Stand des Metzgers abgestellt. Dort hielt ich mich am Wachstuch fest, bis ich wieder abgeholt wurde. Meine Augen erreichten eben die Tischhöhe. Da waren sie wieder, meine Freunde, die zart–rosigen Kalbsköpfe mit der weichen, nackten Haut und den gutmütigen Mäulern, ein Sträußchen Petersilie in jedem Nasenloch. Ihre geschlossenen wimpernlosen Augenlider waren ernst. Nur zaghaft wagte ich, sie mit der Fingerspitze zu berühren. Sie fühlten sich eiskalt an, ein bißchen schlüpfrig wie geschälte Birnen. Ich liebte sie. Der Marktlärm, das Geschrei, das Gedränge – nichts erreichte mich. Ich war im Bann ihrer Würde. Die Metzgerin da oben war freundlich zu mir, aber ich fürchtete sie und wich ihrem Zulächeln aus. Ich sah nur auf die Kalbsköpfe und in die Falten ihrer blass-rosigen Haut, bis mich eine Hand ergriff und fortzog. Ohne den Blick von ihnen zu wenden, stolperte ich davon.

 

An manchen Sonntagen führte mein Vater die Familie ins Museum, oder wir fuhren nach Versailles oder Fontainebleau. Schlösser und Museen waren für mich ein Marthyrium. Nach endlosen Kieswegen, die für Kinderschuhe immer ein paar Steinchen übrig hatten, die sich hinter die Fersen klemmten, ging es durch schattenlose geometrisch geschnittene Hecken, über Treppen und Flure durch leblose Säle. Man blieb vor Möbeln stehen. Man stand vor verschlossenen Schränken, vor Stühlen mit gekrümmten Beinen, vor leeren Tischen, leeren Betten; man stand vor Vitrinen mit zwecklosem Geschirr. Dann ging es in den nächsten Raum. Und wieder mußte man stehen; dazu gab der monotone Vortrag des Führers ein Gefühl der Unendlichkeit. Nichts anfassen, nur stehen, langsam weitergehen und wieder stehen.

 

Nur im Louvre war ich glücklich. Da gab es einen Raum, in dem ich Bauch und Beine vergaß. Es war der Saal der Medici. Rubens, sagte mein Vater, hieß der große Mann, der die riesigen Bilder gemalt hatte, mit den kolossalen Frauen, die genau dieselben Farben hatten wie meine Kalbsköpfe. Hier war ich zuhause. Auf allen Wänden blühte heiteres Fleisch, da wo sich die liegenden Gestalten drehten, gab es Falten, die in den Vertiefungen etwas dunkler wurden. Ich hätte so gerne eine solche Falte angefaßt, aber es war Kunst und anfassen deshalb streng verboten.

 

Mit den Händen auf dem Rücken ging ich ganz nah heran. Da erschienen mir die riesigen Leiber wie gewaltige Sommerwolken voll sinnlicher Süße. Die Revolution der Hüften und Brüste, die gewundenen Bäuche, das blass-rosige Fleisch erfüllte mich mit Seligkeit. Hier fühlte ich mich in meiner vertrauten Umgebung bei meinen Kalbsköpfen in Bourg-la-Reine.